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Tagebuch
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05.07.2008 - MIT LANDMINE.DE UND SODI NACH VIETNAM
VIETNAM-REISE FÜR SODI & LANDMINE.DE 2008

Vom 06. - 12. Juli fliege ich mit dem Aktionsbündnis Landmine.de und der Nichtregierungs-Organisation SODI nach Vietnam, und zwar genau an den 17. Breitengrad, die ehemalige Grenze zwischen Nord- und Südvietnam, also genau das Gebiet, das während des Vietnamkrieges am schlimmsten betroffen war. Die Gegend ist auch heute noch Brachland, der Neuaufbau geht schleppend voran, Bombentrichter, zerstörte, verlassene Dörfer und vor allem (und das ist der Hauptgrund meiner Reise): Minenfelder über Minenfelder.

Als Schirmherr der Friedensdekade versuche ich, auf Dinge hinzuweisen, die Öffentlichkeit für Themen zu sensibilisieren, denen wir uns nicht entziehen können. Deutschland ist nach wie vor "Weltmeister" in der Patentierung von Landminen und Sreubomben, und auch in der Herstellung dieser perversen Waffen nutzen deutsche Firmen alle denkbaren Gesetzeslücken und mischen am Rande der Legalität mit. Ich will hier gar nicht pathetisch sein, aber wir als Bürger der Bundesrepublik Deutschland wählen unser Parlament, und dieses Parlament verabschiedet Gesetze. Das heißt: Wir können etwas tun, wir haben die Macht, den Einfluss, Dinge zu verändern, und das sollten wir nutzen.
Anfang des Jahres haben wir mit landmine.de im Kanzleramt 1.000.000 Unterschriften abgeliefert, die sich für ein striktes Verbot von Landminen und Streubomben aussprechen. Wir wurden wahrgenommen, und das ist erstmal ein Anfang.

Nach Vietnam begleitet mich eine Journalistin und ein Kamerateam, und ich hoffe, dass wir dadurch ein wenig Öffentlichkeit bekommen. SODI initiiert übrigens gerade einen Aufruf "100.000 Unterschriften für Gerechtigkeit und Entschädigung für AGENT ORANGE - Opfer in Vietnam", ich bin einer der Erstunterzeichner. AGENT ORANGE ist ein hochgiftiges Pflanzenvernichtungsmittel, das im Vietnamkrieg als chemischer Kampfstoff eingesetzt wurde und dessen Spätfolgen jetzt in den Folgegenerationen zum Tragen kommen.

In den nächsten Tagen möchte ich, eine Art Internet-Tagebuch führen. Das Programm ist sehr umfangreich, es stehen Besuche von einem Kindergarten und einem Krankenhaus auf dem Plan, ich treffe mich mit AGENT ORANGE - Opfern, werde eine Fotoausstellung besuchen und natürlich die Minen-Räum-Teams. Wenn ich Glück habe, steht irgendwo ein Klavier, und ich kann ganz nebenbei auch mal das tun, was ich wirklich kann... Vielleicht singe ich dann sogar ein Lied auf vietnamesisch, aber das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen, weil ich mir beim lernen des Textes letzte Nacht höchstwahrscheinlich die Zunge gebrochen habe.
Ich hoffe erstmal, dass ich überhaupt ins Netz komme, dann kann ich euch an dieser Stelle weiter auf dem Laufenden halten. Sonntag geht es los, ich fliege 11:40 Uhr ab Leipzig, 14:40 Uhr ab Frankfurt/Main und lande 11 Stunden später (06:35 Uhr Ortszeit) in Hanoi. Weiterflug um 10:10 Uhr nach Hue, Ankunft 11:20 Uhr. Von dort aus Weiterfahrt nach Quang Tri, dem Ziel der Reise.
 
Ehrlich gesagt - ich bin schon leicht hibbelig - sowas macht man nicht alle Tage, es ist extrem spannend, und sicher gibt es ne Menge zu erzählen. Leute - bleibt kühl - ich versuche das auch (in Vietnam sind, glaube ich, gefühlte 50 Grad Celsius - Dauersauna, am Ende verliere ich da vielleicht sogar noch an Gewicht!).  Ich bin jedenfalls sehr gespannt und hoffe, dass ich mich spätestens Montag hier an dieser Stelle wieder melde. bis gleich...

Fotos: 3x ich - einmal mit meinem Lieblings-Instrument (so eins werde ich wohl in Vietnam nicht finden), dann mit meinem Lieblings-Flugzeug (damit werde ich wohl nicht weit kommen, auf dem Weg nach Vietnam) - und dann mit meinem Lieblings-Religiösen Oberhaupt (damit komme ich wohl weiter, höchstwahrscheinlich sogar extrem, wegen fetzen & so -  you know, 70 % der Vietnamesen sind Buddhisten).



07.07.2008 - VIETNAM IST GANZ SCHÖN VIETNAMESISCH
Nach 11 Stunden Flug bin ich heute morgen um 6:35 Uhr Ortszeit (01:35 MEZ) in Hanoi gelandet. Tropische 42 Grad Celsius und jetlag vom Feinsten. Schräge Blicke vom Zoll, aber ansonsten alle sehr freundlich. Weiterflug nach Hue, in die Mitte des Landes, von SODI-Leuten in Empfang genommen und erstmal lecker Spätstück mit landestypischen Leckereien (genossinen &) genossen.(Nudel-Reis-Fisch-Rind-Schwein = scharf). Danach Weiterfahrt nach Quang Tri, vorbei an Reisfeldern und riesigen Werbe- bzw. Propaganda-Tafeln mit Ho-Chi-Minh und roten Fahnen mit gelben Sternen, bzw. Hammer & Sichel - manchmal ungewollte DDR-flashbacks. Sehr chaotischer Straßenverkehr - Hupe ist wichtiger als Bremse - Die Fahrradfahrer tragen Mund- bzw. Gesichtsschutz, aber nicht der Abgase wegen, sondern, weil es als nicht schick gilt, braun zu werden. Eben gerade im Hotel angekommen - Internet scheint zu funktionieren. In einer knappen Sunde Treffen mit allen Beteiligten & dann Abfahrt zu einem offiziellen Abendessen mit den Provinz-chefs. Eigentlich wollte ich ja keinen Alkohol trinken, aber der Höflichkeit wegen...
Jetzt aber erstmal duschen & Zähne putzen. Geschlafen habe ich gar nicht, aber das hat auch noch Zeit. Sehr aufregend - man steigt ins Fluchtzeug und einen halben Tag später ist man am anderen Ende der Welt.

Fotos: Vorbereitung auf das Leben im allgemeinen und die Reise im speziellen - Deutsch-vietnamesische Freundschaft ist nicht von Pappe (außer die beiden) - Tour de Vietnam - Agitation & Propaganda




08.07.2008 - KRANKENHAUS EINGEWEIHT - KINDERGARTEN & FAMILIE VON MINENOPFERN BESUCHT - JEDE MENGE MINEN GERÄUMT & GESPRENGT
Das war ein sehr ereignisreicher Tag. Der Kampf mit dem jetlag dauert an, gestern abend konnte ich nicht einschlafen & hab mich bei knapp 30 Grad im Bett rumgewälzt. Trotzdem ging es heute früh 07:30 Uhr los (gar nicht meine Zeit!). Wir sind direkt zu einem neu gebauten Krankenhaus gefahren und haben der Eröffnungszeromonie beigewohnt. Jede Menge Reden auf vietnamesisch & broken english und ein Kulturprogramm mit Tanz & Gesang von Kindern in traditioneller vietnamesischer & Pionier-verkleidung und meiner bescheidenen Vielseitigkeit. Ich habe (morgens um 08:30 Uhr !!!) mit Hilfe eines Keyboardes (Kinderkeyboard?) und eines Sprechermikrofones zuerst "Meine Nation sind die Liebenden" und danach "Kia con buom vang" ("Bruder Jakob" auf vietnamesisch) zum besten (oder eher zum schlechteren?) gegeben. Das erste wurde mit höflichem Applaus bedacht und das zweite mit frenetischem Jubel. Das neu eröffnete Krankenhaus ist ein von Spendengeldern finanziertes Projekt von SODI. Bemerkenswert, wenn man sieht, dass das Geld wirklich da ankommt, wo es gebraucht wird.

Weiter ging es zu einem Kindergarten - eine Integrationseinrichtung mitten im ländlichen Dschungel. Die Straße dorthin war eher ein Feldweg, & alles war eher spartanisch, aber die Kinder waren fröhlich und haben sich sichtlich über die Süßigkeiten gefreut, die wir mitgebracht hatten. Danach gab es lecker Mittagessen in einem Restaurant in unmittelbarer Nähe des 17. Breitengrades, der ehemaligen Grenze zwischen Nord- und Südvietnam, also dem Gebiet, das zu Kriegszeiten das am heftigsten umkämpfte war, und dort haben wir danach die Familie besucht deren Vater und Schwager vor zwei Jahren einer Minenexplosion zum Opfer gefallen sind. Das hat mich persönlich doch sehr mitgenommen, zumal ich mich gefragt habe, wo die Grenze ist zwischen "In die Öffentlichkeit tragen" einer solchen Geschichte (und damit für ein solches Thema zu sensibilisieren) und der Wahrung der Privatsphäre von diesen Menschen, bzw. einfach der Wahrung von Respekt.
Sei es wie es sei - ich denke, dass diesen Leuten unterm Strich wirklich geholfen wird (SODI sorgt für die Familie mit finanzieller Unterstützung - ein Anschubkredit von nur 150 Euro sorgt dafür, dass solche Familien, deren Ernährer nun fehlt, vorerst über die Runden kommt).

Den Rest des Tages haben wir damit verbracht, die Minen-Räumteams zu besuchen, und das war wirklich hardcore! Es ist etwas anderes, wenn man bei solch einer Aktion zugegen ist. Ich habe viel darüber gelesen und einmal einen Bericht im TV gesehen, aber wenn du vor so einem unberäumten Minenfeld stehst und dabei bist, wenn dieses Dreckszeug gefunden und dann kontrolliert gesprengt wird, dann wird dir der ganze Wahnsinn erstmal richtig bewusst, und du spürst die Wut in dir aufsteigen, darüber, dass es sowas noch immer gibt und (ich weiß, ich wiederhole mich) dass diese Dinger nicht nur irgendwo, auf der Welt patentiert und hergestellt werden, sondern unter anderem auch ganz in deine Nähe, in deine Heimat, von Firmen die dir durchaus geläufig sind (Daimler Crysler, Mercedes Benz, Thyssen Krupp, Siemens). Auch wenn das jetzt pathetisch klingt - ich schäme mich an dieser Stelle für mein Land, den demokratischen Rechtstaat Bundesrepublik Deutschland, und ich bin froh, dass ich hier bin, das alles mit eigenen Augen sehe, weil ich es dadurch erst richtig begreife. Bei sowas bleibt mir jede ironische Bemerkung, oder jeder Scherz im Halse stecken...



08.07.2008 - FOTOS VOM 08.07.2008




08.07.2008 - MINENRäUM-FOTOS VOM 08.07.2008




09.07.2008 - PER SMS AUS VIETNAM
Komme leider nicht mehr ins Netz. Schreibe aber weiter Tagebuch und stell es später (sicher am Wochenende) online!
(notiert vom Webassistenten)



09.07.2008 - HO CHI MINH PFAD GESEHEN, NEUES DORF BESUCHT & FOTOAUSSTELLUNG ERÖFFNET
Heute sind wir ins Landesinnere in Richtung Laotische Grenze gefahren. Es ging hoch in die Berge, und dort oben waren die Temperaturen sehr moderat. 28 Grad Celsius kamen mir regelrecht kühl vor, im Vergleich zu weit über 40 Grad im Flachland. Oben in den Bergen haben wir sehen können, wie unterschiedlich die Kulturen in Vietnam sind. Es gibt 52  ethnische Minderheiten, die einen sehr eigenen Lebensstil haben. Die Häuser der Menschen in dieser Gegend sind meist auf Pfählen gebaut. Diese traditionelle Bauweise ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Leute vor wilden Tieren sicherer gefühlt haben. Ein Teil dieser Tiere existiert allerdings nicht mehr, was wieder auf die Kriegführeng der USA zurückzuführen ist. AGENT ORANGE, das als chemischer Kampfstoff eingesetzte Pflanzenvernichtungsmittel, hat nicht nur die Wälder und überhaupt die Vegetation nachhaltig zerstört (noch heute, 40 Jahre danach, kann man die Landstriche sehen, in denen es keinen Baumbestand mehr gibt (rund 1/6 des gesamten Baumbestandes des Landes ist zerstört worden), das Gift ist auch in die Nahrungskette gekommen, und viele exotische Tiere sind entweder völlig ausgerottet, oder eben extrem dezimiert worden. Trotz alledem war der Anblick atemberaubend und der kurze Ausflug in höhere Gefilde wunderschön.

Am Nachmittag sind wir in ein Dorf gefahren, welches vor 10 Jahren noch nicht existierte. 1999 wurde ein größerer, verminter Landstrich beräumt, und dort  Menschen angesiedelt. Die Leute brauchten erstmal eine Weile, um aufzutauen, waren dann allerdings umso herzlicher. Am Ende hab ich mit den Kindern Fußball gespielt, und wir haben mit Luftballons herrlichen Schwachsinn angestellt. Es ist schon komisch – am Anfang kam ich mir wirklich vor, wie der große weiße Massa, und das war etwas befremdlich, aber dann, als wir Blödsinn gemacht haben (Quietschgeräusche mit den Ballons und uns gegenseitig angepustet), waren wir herrlich auf Augenhöhe, und es war nicht anders, als zuhause mit kids dieses Alters.

Abends waren wir wieder zu einer offiziellen Veranstaltung eingeladen – die Eröffnung eine Fotoausstellung mit kulturellem Rahmenprogram. Es sangen vier verschiedene vietnamesische Popsänger/Innen – tierisch laut und leicht verzerrt, aber das Publikum mochte das. Es waren insgesamt bestimmt 300 Leute, die Hälfte Kinder, und als ich dann dran war und (wieder)mit einem Kinderkeyboard und einem extrem verhallten Mikrofon-sound „Meine Nation sind die Liebenden“ sang, war der Jubel zu meinem großen Erstaunen wirklich groß. Die Dolmetscherin hatte vorher den Text übersetzt, und die Leute schienen verstanden zu haben, was ich sagen wollte. Der Chef des Abends, also der eigentliche Gastgeber war übrigens ein älterer Mann, der früher ein führender Viet-kong-Kämpfer gewesen war, nicht irgendeiner, sondern einer, der (wie die anderen Einheimischen nicht ohne Stolz erzählten) damals ganz oben auf der amerikanischen Fahndungsliste stand („Wanted – 10.000 Dollars“). Ein bisschen unwohl war mir dann doch, als ich ihm die Hand reichte. (Wie viele Leute der wohl in seinem Leben „auf dem Gewissen“ hat, ging mir durch den Kopf, aber ich will das hier gar nicht werten – Krieg ist pervers, ich hab so was glücklicherweise nie erleben müssen, und – ganz nebenbei – alle älteren Vietnamesen haben ihn logischerweise erlebt – sie haben ihr Land verteidigt, und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich in deren Haut gesteckt hätte, die mir natürlich, rein körperlich, ein paar Nummer zu klein gewesen wäre – hahaha).



10.07.2008 - SCHLUSS MIT LUSTIG!

Wie jeden Tag sind wir um 07:30 Uhr losgefahren.  Heute wollten wir uns die Minenräum-Arbeiten in einem Gebiet anzusehen, in welchem in Zukunft ein Kindergarten gebaut werden soll. Es ist schon frappierend, mit welcher Normalität diese Arbeit verrichtet wird. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass ich nun weiß, was da abgeht, aber dieses Mal war es wieder anders. Das gesamte Gebiet umfasst eine Fläche von knapp 50 Hektar, und die Räumung erfolgt nach sehr strengen Regeln. Zu Beginn wurde das Team belehrt – immer auf die Anweisungen des Leiters des Räumkommandos hören, nicht rauchen, niemals rückwärts gehen, beim Fotografieren keinen Blitz verwenden (wegen Ablenkung und Erschrecken der Minenräumer) und vor allem: Niemals außerhalb der vorgeschriebenen Wege gehen. Geräumt werden mit rotem Bindfaden abgesperrte, ungefähr einen Meter breite Bahnen, und die Minenräumer müssen zueinander einen Sicherheitsabstand von ungefähr 30 Metern haben. Wie uns gesagt wurde, passieren in Vietnam nahezu täglich „Unfälle“ (warum schreibe ich das in Anführungszeichen?) mit Blindgängern aller Art – weniger beim Räumen selbst, mehr im ganz normalen täglichen Leben. Alles lief nach Plan, bis der Chef des Räumteams plötzlich anfing, ganz aufgeregt mit den anderen Einheimischen zu reden. Er hatte gerade eine sms bekommen und erfahren, dass nur 4 km von uns entfernt gerade 3 Kinder durch einen detonierenden Sprengsatz getötet worden waren. Ich weiß gar nicht, wie ich das jetzt sagen soll, aber in diesem Moment wurde uns allen noch mal extrem klar, dass das hier alles kein Spiel ist. Ich fürchte, ich wiederhole mich schon wieder: Es ist etwas völlig anderes, wenn man liest, dass so was passiert, oder wenn man einen Bericht darüber im Fernsehen sieht. Das ist immer noch verhältnismäßig anonym (auch wenn es uns natürlich berührt), aber wenn du sozusagen dabei bist, wenn du die Aufregung spürst, mit der die Leute (die diesbezüglich schon viel gesehen haben) hautnah miterlebst und dir dadurch der Ernst der Lage erst richtig bewusst wird, dann fühlst du dich so hilflos und wütend und du könntest heulen und schreien.
Im Vietnamkrieg wurden  insgesamt 15 Millionen Tonnen (!) Bomben abgeworfen, und im ganzen  Indochinakrieg mehr als im gesamten 2.Weltkrieg. Das sind nur Zahlen, jeder kann sie nachlesen, aber es bleibt trotzdem alles sehr abstrakt. Die drei Kinder, die heute  ganz in unserer Nähe gestorben sind, sind sehr real, und wir alle haben das heute nicht verstanden. Das Kamerateam, das mehr oder weniger die ganze Zeit dabei ist, hat genau die Situation  eingefangen, in der wir davon erfuhren. Ich konnte (ähnlich, wie vorgestern, als wir bei der Familie waren, die vor zwei Jahren Vater & Onkel auf die gleiche Weise verloren hatte) nichts sagen. Ich fühlte mich in diesem Moment zu sehr beobachtet, die waren zu nah an mir dran, ich habe dann sogar (sicherlich nicht sehr charmant) Stefan, den Kameramann, in seine Schranken verwiesen, der mich im close-up filmte und mich „abschoss“, als ich schlucken musste. Wir haben uns danach darüber unterhalten, und Heike (die Journalistin, die uns die ganze Zeit begleitet), verteidigte ihn und sagte, dass das genau die Augenblicke sind, die sie haben will, wenn sie mit dem Filmmaterial die Menschen in Deutschland erreichen und für das (sicher nicht besonders unterhaltsame Thema) Landminen und Streubomben sensibilisieren will. Ich will gar nicht jammern, und mein Gemütszustand ist dabei eigentlich auch völlig nebensächlich, ich will nur versuchen zu erklären, dass das wirklich ein beschissener Vormittag war – wir alle waren mit dieser Situation überfordert, jeder von uns hat vielleicht sogar darüber nachgedacht, was wäre, wenn es sich bei diesen Kindern um unsere gehandelt hätte... schluss damit!

Ironie des Schicksals, oder was auch immer – der Rest des Tages war wunderschön. Wir sind (endlich!) ans Meer gefahren und waren dort, direkt am Strand zum Mittagessen eingeladen. Der Strand war, wie im Bilderbuch, blendend weiß und man konnte barfuss nicht die 30-40 Meter bis zum Wasser gehen, so heiß war der Sand. Lufttemperatur bestimmt weit über 40, Wassertemperatur 28 Grad Celsius. Die Chefs vom Räumteam und die Leute von der Provinzverwaltung waren sehr aufgeschlossen (wir kennen uns ja auch schon ein paar Tage) und wir sind sehr gut miteinander ins Gespräch gekommen. Wir haben sogar über den Krieg gesprochen, was ansonsten bis jetzt noch kein Thema war und was, wie ich erfahren habe, eigentlich auch sehr bewusst umgangen wird. Zu tief scheinen die Wunden zu sein, nahezu jeder Vietnamese hat Familienmitglieder verloren, das ist alles noch gar nicht solange her, und an den Spätfolgen leidet die Bevölkerung nach wie vor.

Das Essen war herrlich: Lecker Krabben, lecker  Tintenfisch und dazu eiskaltes Bier. Ich hab mehr getrunken, als ich vorher gedacht hatte, aber scheinbar hab ich das nach diesem Vormittag gebraucht...



12.07.2008 - NOCHMAL ESSEN UND FLIEGEN AUF VIETNAMESISCH




13.07.2008 - LETZTER TAG VIETNAM
Am letzten Tag ging es mir rein körperlich nicht besonders gut, das tropische Klima, der Aufenthalt in voll klimatisierten Gebäuden und Fahrzeugen und sicherlich auch das ungewohnte Essen forderten Tribut. Ich will mich jetzt nicht in Einzelheiten austoben, aber jeder kann sich vorstellen, wie das ist, wenn das, was man gegessen hat, nicht im body bleibt, sich seinen Weg sucht, um die Sonne Vietnams zu erblicken - naja.

Der Rückflug ging ab Da Nang, eine 3-Millionen-Stadt, die sich hinter den Bergen befindet, das heißt: Serpentinen, es sei denn, es gibt einen Tunnel, und den gibt es (und die Leute sind ganz stolz drauf). Zuerst fuhren wir nach Hue (wo wir gelandet sind), aber die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt blieben mir leider verschlossen, weil ich mich lieber ein paar Stunden hinlegen wollte - Toilette in der Nähe war mir sehr wichtig. Die Fahrt war trotzdem der Hammer, das Land ist wirklich wunderschön - nur eben schade, dass sich immer wieder die unschönen Erlebnisse der letzten Tage in meinen Kopf schlichen. Man wird ja auch pausenlos daran erinnert: Sehr auffällig sind die Schneisen, die sich durch die Landschaft ziehen - Bergketten mit Bäumen über Bäumen und auf einmal Streifen, die nur mit Buschwerk bedeckt sind - AGENT ORANGE. Wie dem auch sei, es ist, wie es ist, und die Einwohner dieses Landes haben das Lächeln nicht verlernt und strotzen nur so von Freundlichkeit, selbst den Amis gegenüber.

Da fliege ich Sonntag nacht hin - family-Urlaub in Kalifornien, und da tobt ja zur zeit das Feuer. Alle Gedanken über Vergeltung (die waren es ja, die dieses Land so pervers verstümmelt haben) oder so einen Schwachsinn streifen mein Hirn (wenn überhauprt) nur ganz kurz. Natürlich bin ich wütend, vor allem, wenn ich an die Kinder denke, die vor ein paar Tagen im wahrsten Sinne des Wortes explodiert sind, aber (und jetzt will ich hier gar keine Binsenweisheiten vom Stapel lassen) Rache, oder sowas bringt gar nichts, man kann nur hoffen, dass die Menschheit (welch großes Wort!) daraus lernt - schöne Grüße nach Afghanistan oder in den Irak...

ICH jedenfalls werde das Land in wunderbarer Erinnerung behalten, und ich werde versuchen, es nicht auf seine tragische Geschichte zu reduzieren. Der Taxifahrer, der mich vorhin in Leipzig vom Flughafen nach Hause fuhr, fragte, wo ich denn gewesen sei, und als ich "VIETNAM" sagte, war seine erste Frage, ob man da denn noch was vom Krieg sieht und spürt. Ich habe angefangen zu erzählen und währenddessen gemerkt, dass ich nur von den schlimmen Sachen berichte. Das ist definitiv nicht Sinn der Übung. Logisch - wir sollten wirklich versuchen, aus der Geschichte zu lernen, und mein Ansatzpunkt für diese aufreibende Woche war der Kampf gegen Landminen und Streubomben. Es ist Unsinn, in der Vergangenheit zu wühlen und mit dem Finger auf die USA zu zeigen (obwohl DAS schon ganz gut ist, zumal die ja heute nicht viel anders drauf sind - also ich meine natürlich die - derzeitige - Regierung). Viel wichtiger finde ich, vor der eigenen Tür zu kehren - wie gesagt: DEUTSCHLAND ist Weltmeister in der Patentierung dieser schlimmen Waffen (ich weiß, alle Waffen sind schlimm und todbringend), aber Streumunition ist sowas von pervers, auch noch Jahre nach deren Einsatz, davon kann ich jetzt Geschichten erzählen, weil ich es wirklich sehr nah miterlebt habe.

Es liegt mir wirklich fern, irgendjemandem, der das hier liest, vorschreiben zu wollen, was er zu denken, gescheige denn zu tun hat, aber ich hoffe sehr, dass es mir gelungen ist, euch "an dieser Front" ein bißchen anzuknipsen, und wenn das der Fall ist, dann möchte ich euch bitten, davon zu erzählen, denn - wie gesagt (auch wenn es vielleicht pathetisch, welverbesserisch oder gutmenschmäßig klingt:

Wir leben in einer Demokratie - da dauern Veränderungen zwar oft sehr lange, weil der demokatische Rechtsstaat träge ist, aber WIR können unsere Regierung wählen, die macht am Ende die Gesetze und die können dann die Rüstungsfirmen  zum Handeln zwingen.

Wer will, kann sich schlau machen:

http://www. landmine.de

http://www.sodi.de

Einen schönen Sommer - hier noch ein paar Fotos, die nichts mit Krieg und Landminen und Streubomben zu tun haben...



16.01.2010 - MORGEN GEHTS NACH MALI!






Morgen flieg ich nach Mali. Ich bin gespannt!












17.01.2010 - UNTERWEGS NACH MALI
Mein kleines, verträumtes Mali Tagebuch:
 
Leipzig: "Bonjour" heiißt es in der AIR FRANCE-Maschine, die mich um 10:45 von Leipzig nach Paris bringt. Es ist kalt im Flugzeug, draußen sowieso - mir kommt es noch kälter vor, was sicherlich an meinen Klamotten liegt. Die Winterjacke hab ich Zuhause gelassen, leichte Frühlingsjacke, kein Pullover, die gefütterten Schuhe hab ich gegen meine dünnen aber robusten CAMPER eingetauscht - immerhin erwarten mich in Bamako, der Hauptstadt des nordwestafrikanischen Mali, voraussichtlich 35 Grad...
 
Was mich dort noch erwartet, das weiß ich nicht genau. Die einzige wirkliche Vorbereitung bestand in einer umfangreichen Impf-Session, vor allem gegen Gelbfieber (Pflicht), Tetanus, Diphterie, Pertussis (was auch immer das sein mag) und Hepatitis. Ich habe zwar in den letzten Tagen versucht, mich auf verschiedenen Webseiten schlau zu machen, habe auch eine Menge über das Land und den Kulturkreis im Allgemeinen in Erfahrung gebracht, bin aber unterm Strich eher etwas verschreckt worden, vor allem durch Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Man solle insbesondere den Norden des Landes meiden, weil gerade in den letzten Wochen und Monaten häufiger Entführungen europäischer (& vorzugsweise deutscher) Touristen vorgekommen sind. Ich hab irgendwas von "Terroristen" und "Al Qaida" gelesen und mich dabei ertappt, wie ich mir Sorgen gemacht habe. Aber das ist, wie ich mich selbst beruhige, übertrieben - ich bin in Bamako und später an der mauretanischen Grenze, nicht in den nördlichen Sahara-Regionen, außerdem bin ich nicht allein.
 
Urs Jakob habe ich im September letzen Jahres in New York kennen gelernt. Er kommt ursprünglich aus der Schweiz, lebt seit über 30 Jahren in den USA und hat es dort sprichwörtlich vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft. In den Siebzigerjahren hat er angefangen an der Ostküste Jugendherbergen aufzubauen und mittlerweile besitzt er überall auf der Welt Hotels. Als ich im September in NY war, wohnte ich in seinem "Gershwin-Hotel", mitten im Herzen Manhattans in der 52. Straße, Ecke 5th Avenue, zwischen Empire State & Flat Iron Building. Ich habe Urs als Philantropen kennen gelernt, der einen Großteil seines Geldes und seiner Energie dazu nutzt, Flüchtlingscamps in Mali und Mauretanien zu unterstützen. Sein Hobby, die Filmemacherei, nutzt er unter anderem, um auf das Dilemma der "Boat-People" aufmerksam zu machen, jener Menschen, die versuchen, aus Afrika nach Europa zu gelangen. In verschieden Gesprächen merkten wir, dass wir diesbezüglich an ähnlichen Fronten unterwegs sind - ich erzählte ihm von meinen Lesereisen zum Thema Flüchtlingsgeschichten, gab ihm das von mir herausgegeben Buch "Hoffnung säen" und das dazugehörige Hörbuch, und irgendwann fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn nach Afrika zu begleiten um mir vorort ein Bild von der Situation zu machen.
 
Jetzt ist es soweit - ich bin wirklich aufgeregt, war noch nie in Afrika. Erstmal happy landing in Paris - kalt und grau, ich freu mich auf die Wärme. Gleich werde ich Urs und sein Kamerateam treffen - das hoffe ich jedenfalls, denn so ganz alleine würde ich mir doch etwas verloren vorkommen. Keine Ahnung, wie es in Bamako und vor allem in Nioro, einer Stadt an der Mauretanischen Grenze mit Internet aussieht - wollen wir mal hoffen, dass die moderne Welt auch südlich der Sahara Einzug gehalten hat. Ich hoffe, ich melde mich bald wieder - bin wirklich hibbelig und gespannt auf das, was mich in ein paar Stunden in einer völlig anderen Welt erwartet...
 
In Paris habe ich jede Menge Zeit, fahre erstmal mit dem Shuttle-Bus und dann mit einer Magnet-Schwebebahn zum Terminal von dem die Flüge aus Europa rausgehen. Am Gate treffe ich einen völlig übernächtigten Urs zusammen mit zwei ebenso zerknitterten Männern, die vor ein paar Stunden aus den USA, bzw. Canada gelandet sind. Wir machen ein bisschen Smalltalk, aber ich merke, dass die drei mit ihrem Jetlag zu kämpfen haben. Dann wird auch schon der Flug aufgerufen, wir stellen uns mit vielen Afrikanern an und besteigen gegen 15:30 unseren Airbus A 340.
Air France Flight 3096
 
20:00 Uhr
 
Schon der Flug Paris - Bamako ist anders. Neben mir sitzt ein sehr großer, stattlicher schwarzer Mann in afrikanischer Tracht mit Bart und er sucht das Gespräch. Das ist schwierig, denn er spricht nur Französisch, und meine Kenntnisse in dieser Sprache sind sehr beschränkt. Auf der anderen Seite sitzt ein Englisch sprechender Afrikaner, und zu dritt kommen wir in ein holpriges Gespräch über Mali und Bamako. Als ich erzähle, dass ich den Weg der "Boat-People" erkunden will, dass ich in einem Dorf an der mauretanischen Grenze übernachten will, von dem aus die Leute zur Küste aufbrechen, wundern sich die Männer. Sie fragen mich aus, unter anderem über FRONTEX, das Europäische Programm zum Schutz der Grenzen zu Afrika, und sie merken schnell, dass ich weiß, worum es geht. FRONTEX ist, wenn man es mit ein paar Worten umschreiben will, auch für die Misere der "Boat-People" verantwortlich. Europäische Schiffe fangen die Flüchtlingsboote auf offener See ab, beschlagnahmen Treibstoff und Verpflegung und zwingen sie damit zur Umkehr. Das ist ganz offiziell so - FRONTEX wird mit Steuergeldern finanziert und es ist menschenverachtend. Natürlich könnte man sofort argumentieren: Warum? Es ist doch eigentlich richtig so - wo sollen die denn auch alle hin - es kann doch nicht ganz Afrika nach Europa umsiedeln - was dann schnell in die üblichen Vorurteile umschlägt, dass die sich sowieso mit unserer Kultur nicht auskennen, hier nicht klar kommen, sich nicht benehmen können, uns auf der Tasche liegen, uns die Arbeitsplätze und die Frauen wegnehmen und sowieso nur zum Dealen und zu anderen kriminellen Aktionen in unser schönes, sauberes, sicheres Europa kommen. Solche Vorurteile werden - ob nun bewusst oder unbewusst - von verantwortungslosen Politikern oder Medienleuten geschürt, die in der Öffentlichkeit Dinge  äußern, die man, wenn man hart urteilt, als rassistisch bezeichnen kann. Ob nun der eine oder ander Unions-Ministerpräsident, Koch, Rüttgers oder Wulff, seinen Wahlkampf mit "wir haben zu viele kriminelle Ausländer"-Sprüchen garniert und damit am rechten Rand fischt, ob rechtsextreme Parteien ganz offen "Arbeit zuerst für Deutsche" oder "Kriminelle Ausländer raus" fordern, oder ob der Chef der LINKEN, Oskar Lafontaine von Fremdarbeitern spricht, all das ist unverantwortlich und es führt in eine falsche Richtung.  Selbst der ehemalige deutsche SPD-Innenminister Otto Schily hat gesagt: "Das Boot ist voll" - welch zynischer Satz, gerade wenn man an den Weg der vielen "Boat-People" denkt, die es nicht geschafft haben...
 
Natürlich ist es keine Lösung, alle Hungernden, alle Verfolgten, alle Not leidenden nach Europa, nach Deutschland zu holen - das ist praktisch unmöglich, und es würde zu unabsehbaren Konflikten führen. Die längerfristige Lösung wäre, sich darum zu kümmern, dass diese Menschen keinen Grund mehr haben, ihre Heimat zu verlassen. Die Lösung wäre, sich darum zu kümmern, dass diese Menschen nicht mehr in Armut in Slums leben müssen, nicht mehr um ihr Leben bangen müssen. Die Lösung wäre, sich um eine gerechtere Verteilung zu kümmern, nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auf der ganzen Welt. Die Lösung wäre auch, dafür zu sorgen, dass keine unmenschlichen Kriege stattfinden, dass wir, die so genannte zivilisierte Welt sich nicht mit Rüstungsgeschäften gesund stößt, dass das gesamte weltwirtschaftliche System überdacht wird, dass es keinen Hunger, keine Ausbeutung und kein Leben auf Kosten der so genannten dritten Welt mehr gibt.
 
Ja, ich weiß, das klingt alles ganz schön idealistisch und weltfremd, aber es ist doch sachlich richtig. Ich weiß, dass mich einige, die das jetzt lesen, belächeln, und trotzdem bin ich davon überzeugt, dass meine Haltung richtig ist. Natürlich können wir die Welt in der wir leben nicht von heute auf morgen umkrempeln, aber wir können mit einem Umdenken anfangen, dass sich früher oder später durchsetzt. Wir können anfangen darüber nachzudenken, was wir selbst tun können, und wir können viel tun. Die Welt wächst zusammen, der technische Fortschritt ermöglicht es uns, innerhalb kürzester Zeit auf der anderen Seite des Globus zu sein, ganz zu schweigen davon, dass wir durch das Internet und durch all die Sateliten die über uns kreisen, praktisch immer überall sein können, zumindest virtuell. Noch vor gar nicht so langer Zeit war es üblich und sogar salonfähig, von "Negern" zu sprechen, die keine Kultur kennen, die keine richtigen Menschen sind. Das ist längst vorbei, Barack Obama ist Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und die Fußball-WM findet im ehemals rassistischen Südafrika statt. Und wenn wir darüber nachdenken, wie unsere Welt in 50 oder 100 Jahren aussehen könnte, dann glaube ich schon, oder ich hoffe es wenigstens,  dass wir von Hungersnöten oder Kriegen als Phänomene aus längst vergangenen Zeiten sprechen. Und was können wir dazu tun? Erstmal geht es um gegenseitigen Respekt, und das ist doch eigentlich ganz einfach, wenn wir anfangen, uns mit andern Kulturen zu beschäftigen, wenn wir nur ein bisschen neugierig sind...
Happy landing in Bamako 21:56 Uhr
 
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Die erste Nacht in Bamako verbringen wir in einem sehr edlen Hotel, dem Radison Blu - das könnte auch in Deutschland stehen, und ich bin fast ein bisschen enttäuscht, weil ich so einen Luxus gar nicht erwartet hatte. Wir haben uns vorhin alle noch einmal in der Hotelbar getroffen und den Plan für morgen durchgesprochen: 7:30 Frühstück und 8:30 Abfahrt. Wir werden an die mauretanische Grenze nach Nioro fahren und dort in einem nahe gelegenen Dorf eine Familie besuchen um die Lebensumstände der Leute hier besser verstehen zu können. Ich lass mich überraschen und vertraue mich voll und ganz der Obhut von Urs an. Unser Mann Vorort heißt Mamadou, er spricht verschiedene Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und 5 (!) verschiedene malische Sprachen (keine Akzente, sondern wirklich Sprachen), was hier in den nächsten Tagen sicher sehr von Vorteil sein wird. Er ist Professor für Germanistik, hat von 1980 - 1988 in Deutschland studiert und promoviert und hat zwischen 1998 und 2007 in den USA deutsch unterrichtet. Der Mann, der die Finanzen im Griff hat heißt Barry, ist Schotte (!) und a very funny guy - er macht die ganze Zeit Witze über die Gepflogenheiten der Einheimischen, jedes zweite Wort ist "fuck", aber das meint er nicht so... Das Kamerateam besteht aus Stephane, einem französisch sprachigen Kannadier und Peter, einem Ami - beide Profis, die schon länger mit Urs zusammen arbeiten.
 
Als wir vorhin, nachdem wir sehr gründlich vom Zoll kontrolliert worden waren, aus dem Flughafengebäude kamen, wurden wir sofort von verschiedenen Leuten angesprochen: "Taxi to Bamako City?" - wir haben uns mit einem von ihnen geeinigt, und das Auto, mit dem wir dann zum Hotel gefahren sind, wäre in Deutschland wohl nicht mal mehr zur Abwrackprämie zugelassen worden. Beim Losfahren musste angeschoben werden, und ich war froh, nicht selbst fahren zu müssen, der Straßenverkehr hat hier eigene Regeln...
 
Jetzt bin ich platt, habe gerade noch geduscht (wer weiß, wann es das nächste mal fließend Wasser gibt) und werde jetzt, nach 2 Bier in der Bar, gut schlafen. Mein hochmodernes i-Phon hat hier zwar Netz zum Telefonieren, aber was Mails betrifft, sieht es schlecht aus. Ich werde in den nächsten Tagen fleißig schreiben, aber abschicken und auf meine Webseite stellen, das wird wohl erstmal nichts werden - egal, dokumentieren will ich trotzdem, möglichst ungefiltert, möglichst direkt...
Bamako, 23:55 Uhr



18.01.2010 - ON THE ROAD AGAIN
Heute morgen 8 Uhr beim Frühstück gesessen (ziemlich europäisch) und gegen 10 Uhr losgefahren. Wir sind mit 2 Autos unterwegs, ein Land cruiser und ein Ford cherokee - wir sind über eine Stunde gefahren, bis wir gemerkt haben, dass ein Missverständnis vorliegt. Die erste Station hätte das nationale Filmministerium sein müssen, weil wir hier in Mali nur filmen dürfen, wenn wir eine Genehmigung der Regierung bekommen. Das gestaltet sich sehr schwierig, wir brauchen Pass-Fotos und halten an einem "Fotostudio" - einer Baracke an und lassen uns ablichten. Dann fahren wir den gesamten Weg zurück nach Bamako ins Filmministerium. Dort diskutieren wir mit verschiedenen Instanzen, in der Hoffnung, schnell die Genehmigung zu bekommen. Irgendwann sind wir dann beim stellvertretenden Chef, der uns sagt, dass wir auf jemanden warten müssen, der uns begleiten wird auf unserer Reise an die mauretanische Grenze. Es soll wohl vorgebaut werden, dass wir nicht zu negativ über das Land berichten. Jetzt sitzen wir hier und warten - die Strecke nach Nioro beträgt knapp 500 km, das heißt, wir brauchen mindestens 7 Stunden... Jetzt wollen wir die Wartezeit überbrücken und erstmal in Bamako losziehen, an den Niger (12 Uhr)
 
Das war ein wirklich interessanter und ernüchternder Trip - wir sind durch ein Slum-Gebiet zum Ufer des Niger gelaufen, Holz-, Blech- und Lehmhütten in denen Familien mehr hausen als leben, alles voller Müll, man kann eigentlich sagen, dass die Hütten neben oder auf einer riesigen Müllhalde stehen. Der Fluss ist extrem dreckig, alte Autoreifen, verrostete Blechtonnen, ausgelaufenes Öl und überall Plastik-Müll und vor sich hin brennende Müllberge. Der Geruch ist übel, die Frauen waschen im Fluss die Wäsche, Kinder baden im Dreckwasser... Wir treffen einen Einheimischen, der uns durch die Gegend führt und chartern zwei kleine Boote, Einbäume, die uns übers Wasser tragen. Die Leute sind sehr freundlich und aufgeschlossen, und wir kommen uns deswegen nicht wie Sensationstouristen vor. Es ist trotzdem eine Gratwanderung, und ich merke, dass ich mich nicht wohl fühle, weil das Kamerateam immer drauf hält. Aber deswegen sind wir hier. Wir wollen zeigen, wie die Menschen leben, und vor allem wollen wir verstehen, warum sie hier weg wollen.
Jetzt sind wir in einem Restaurant, es gibt Fisch mit Gemüse und Pommes Frittes, und ich überlege, was mein Magen dazu sagt. Sehr lecker, mal sehen, was passiert ;-)
 
Warten, warten, warten... Die Genehmigung ist noch nicht da, und wir wollen noch mal ans Niger-Ufer, dieses Mal mit einer kleinen, weniger auffälligen Kamera. Ich werde, nicht sichtbar, verkabelt - der deutschsprachige Führer, Mamadou, soll mich mit Einheimischen ins Gespräch bringen. Ich hoffe, dass das klappt und habe etwas Respekt vor der Situation. Immerhin gehe ich zu den Leuten nach Hause, sozusagen in deren Wohnzimmer... Jetzt geht's los (16:00 Uhr)
 
Lärm auf den Straßen - Mamadou erklärt mir, dass gerade das Africa-Cup - Spiel Mali gegen Malawi läuft,  und Mali führt nach knapp 10 Minuten mit 2:0 - große Freude, hupende Autos und kreischende Fans. Fußball ist hier ein Thema - dass die WM dieses Jahr in Afrika stattfindet, erfüllt die Leute mit Stolz. Wie sich die Bilder gleichen, da drängt sich der Kalauer auf: Afrika - ein Sommermärchen...
Endergebnis 3:1 für Mali, und trotzdem sind "wir" ausgeschieden. Als wir eben noch mal durch das Slum gelaufen sind, standen vor einigen Hütten Fernseher mit  großen Menschentrauben davor, die das Spiel lautstark verfolgt haben. Public Viewing auf malisch - zur WM brennt hier sicher die Luft. Auch wenn sich Mali selbst nicht qualifiziert hat, werden die Leute für jedes afrikanische Land abgehen...
 
17:00Uhr
Jetzt sind wir seit einer reichlichen Stunde unterwegs an die mauretanische Grenze. Wir haben einen kurzen Zwischenstopp eingelegt und jeder (außer die Fahrer) hat sich 2 Bier reingezogen - "Flag" heißt die gängige Marke, schmeckt lecker und knallt auch ganz gut (große 0,6 Liter-Flaschen ;-). Jetzt rollen wir wieder - es ist innerhalb kürzester Zeit dunkel geworden - die Sichel des Mondes liegt auf dem Rücken und die Sternbilder sind auch irgendwie "andersrum". Es ist immer noch schwül-warm, aber es soll sehr schnell abkühlen. In der Wüste sind die Temperaturschwankungen extrem - tagsüber weit über 40 und nachts nur knapp über null Grad. Wir haben Schlafsäcke dabei und Urs hat gesagt, er hat zur inneren Erwärmung eine gute Flasche Scotch (1 Liter - das reicht für 5 Leute - die beiden Fahrer trinken nicht, und Mamadou als Moslem auch nicht ;-) Jetzt geht es wirklich in die Wildnis - hoffentlich sind die Behausungen einigermaßen sicher, vor allem, was das Viehzeug betrifft. Schlangen und Skorpione, typische Wüstenbewohner, sind nicht unbedingt meine Lieblingstiere - naja, Schluss damit - es ist sicherlich eine Abenteuerreise, die ich hier mache, und im tiefsten meines Herzens finde ich das auch wirklich cool...
Zur Zeit stehen wir an einer Maut-Station, und ich bin gespannt, ob wir auf dem Highway schneller voran kommen. Dieser ist zweispurig und der Gegenverkehr macht durch lautstarkes Hupen auf sich aufmerksam. Ich bin froh, nicht selbst fahren zu müssen. In 2 Stunden wollen wir eine Pause machen, um noch etwas zu essen. Ich versuche, noch eine Runde zu schlafen - es ist wirklich eine andere Welt hier, und auch wenn mir der Tag ganz schön in den (alten) Knochen steckt, genieße ich sehr, was ich hier gerade mache...
Das Bier, das man getrunken hat, will irgendwann wieder raus - kurze Pause am Straßenrand, und erst jetzt sehe ich die Sterne richtig - Hammer! Wirklich sprichwörtlich, ein grenzenloser, dreidimensionaler, unendlicher, wunderschöner Sternenhimmel!!!
Pause in einer kleinen Stadt - oder ist es eher ein Dorf? Eine dunkle Strasse, Licht kommt nur von einigen Petroleum-Lampen und vom Feuer der Öfen, auf denen Essen zubereitet wird, an das ich mich nicht rantraue. Es gibt einen Laden, in dem Zigaretten, Kekse, Getränke (Wasser, Coke, Sprite und Dosen mit Saft) verkauft werden. Wir kaufen ein paar Flaschen Wasser, ein paar Dosen Saft (Ananas, Banane, Mango & Papaya) und Waffeln und Kekse. Die Straße ist, trotz der Dunkelheit mit Leben erfüllt. Es ist schon gleich 22 Uhr, Kinder rennen durch die Gegend, Händler bieten Uhren und anderen Schnickschnack an und Mamadou ruft mich ganz aufgeregt, weil er in einem Transistorradio Deutsche Welle empfängt. Die Fahrt hat echt geschlaucht und wir haben noch über 3 Stunden vor uns. Ich ertappe mich dabei, wie ich stöhne, dass wir uns auf der Rückbank des Cherokee zu dritt aneinander quetschen und schäme mich im selben Augenblick dafür. "Sebastian Krumbiegel will den Weg der "Boat-People" gehen, den selben Mais essen und in den selben Hütten schlafen!". Das war die Ansage und jetzt rege ich mich über die unbequeme Reise auf. Ich stell mir vor, dass diejenigen, die von Bamako an die Mauretanische Grenze reisen, um sich von da aus von Schleppern an die Küste bringen zu lassen, sich freuen würden, innerhalb von 7 Stunden diesen Weg zu dritt auf der Rückbank eines Jeeps zurücklegen zu können. Es ist eben wirklich alles sehr relativ, und während ich darüber nachdenke, merke ich, wie gut es mir eigentlich geht.
 
Jetzt ist es schon 01:00 Uhr nachts und wir haben immer noch über 100 km vor uns. Eben hatten wir überlegt, ob wir abbrechen und einfach am Straßenrand im Auto übernachten, weil die Fahrer müde sind. Das Auto vor uns war kurz ausgebrochen und geschlingert, weil der Fahrer eingenickt war. Die Nacht auf der Straße zu verbringen, wäre aber nicht ganz ohne - erstens ist es wirklich eng im Auto und zweitens ist es auch nicht wirklich sicher - weniger der Tiere wegen (wenn man die Fenster geschlossen hält, dann können einen alle Schlangen und Skorpione mal) - eher der Kriminalität wegen. Es sind, wie unser Führer Mamadou sagte, wirklich Gangster unterwegs, nicht unbedingt Terroristen oder Al Qaida, aber "ganz normale" Straßenräuber, für die ein gestrandetes Auto am Straßenrand ein gefundenes Fressen wäre. Das klingt jetzt vielleicht übertrieben, ist es aber nicht. Urs hat entschieden, dass wir weiter fahren, und aus verschiedenen Gründen bin ich wirklich froh darüber. Keine Ahnung, in was für einer Behausung wir  gleich nächtigen werden, aber das wird ganz sicher erstens bequemer und zweitens sicherer sein, als der bis vor einer halben Stunde favorisierte Plan B.
Urs und ich haben jetzt Plätze getauscht - ich sitze vorn im Land Cruiser und kann endlich meine Beine lang machen. Das Kamerateam hinter mir entertaint den Fahrer, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, noch mal einzuschlafen. Eben ist (im wahrsten Sinne des Wortes zur "Aufmunterung" des Fahrers) irgendein Tier über die Straße gerannt, ziemlich knapp vor unserem Jeep, ein Kojote oder eine Hyäne oder so was. Bremsen, schlingern, hellwach sein - Mensch, bin ich froh, wenn ich mich gleich irgendwo entspannt lang machen kann...
 
Scheinbar zu früh gefreut - es ist kurz nach 02:00 Uhr, wir sind angekommen und das Haus, in dem wir übernachten sollten, ist voll. Lautes Streiten auf malisch, die Polizei soll gerufen werden, und lustig ist das nicht! Urs und Barry sind losgelaufen, wohin, weiß ich nicht. Wir machen es uns erstmal mehr oder weniger gemütlich im Auto und harren der Dinge, die da kommen. Es ist kalt und dunkel und wir stehen mit unseren beiden Autos irgendwo in the middle of nowhere. Der Fahrer schnarcht neben mir vor sich hin und ich hoffe, dass ich das auch bald mache. Ganz ehrlich - ich hätte nicht gedacht, dass diese Reise so abenteuerlich verlaufen würde. Ich werde jetzt aus dem Kofferraum meine Jacke und eine Flasche Wasser holen und hoffen, dass die Nacht schnell vorbei geht. Wir sind in Afrika, südlich der Sahara auf dem Land, ich bin müde, ich friere und sehne mich nach einem Bett, oder wenigstens nach etwas ähnlichem, wo ich mich ausstrecken kann. Wenigstens können wir die Autotüren zumachen - scheiße ist das aufregend...
 
03:30 Uhr
In Nioro gibt es keine Straßen, alles ist zerklüftet und holprig, mit einem normalen Auto kämen wir hier nicht voran. Unsere Jeeps schaukeln durch die nächtliche Geisterstadt. Esel laufen überall durch die Gegend und scheinen sich nicht an den beiden lautstark ratternden Gefährten zu stören, die da scheinbar plan- und ziellos durch die Gehend fahren. Barry hat irgendwo irgendwas aufgerissen. Wir verständigen uns über Walkie-talkie mit ihm und Urs, die zu Fuß unterwegs sind. Nach einer halben Ewigkeit kommt noch ein Mofa mit einem Polizisten an, der uns misstrauisch beäugt. Wir schaukeln durch die Kraterlandschaft, alles sieht gespenstisch und verlassen aus, aber irgendwann öffnet sich das Tor zu einem Hof. Wir fahren rein und vernehmen die frohe Botschaft: wir haben Zimmer mit Betten!
Wir treffen uns alle zusammen zur nächtlichen Männerrunde, Urs bringt seinen Whisky mit, die Flasche kreist und wir sind alle miteinander froh, dass wir ein Dach über dem Kopf haben. Ich inspiziere mein Zimmer - sehr spartanisch, aber es scheint einigermaßen sauber zu sein, kein Viehzeug und vor allem eine Tür, die ich hinter mir zumachen kann. Als ich leicht angetrunken und völlig erschöpft ins Bett wanke, ist es kurz vor 6 Uhr - so einen Trip kann man sich nicht ausdenken, ich falle sofort in einen traumlosen, tiefen Schlaf.



19.01.2010 - 35 GRAD, FLIEGEN
So richtig lange schlafen kann ich hier nicht. Die Hitze schleicht sich in alle Räum. Erst jetzt sehe ich, dass wir hier wirklich am Rande der Sahara sind. Vom Dach des Hauses aus habe ich einen guten Rundblick: Öde Steppe, soweit das Auge reicht, Bäume gibt es zwar, aber das sind karge, stachelige Gewächse, Sträucher und kaktusartige Pflanzen. In der Regenzeit sieht es hier üppiger aus, wir sind letzte Nacht mit dem Auto durch ein breites, ausgetrocknetes Flussbett gefahren. Irgendwo plärrt ein Fernseher mit afrikanischer Musik, was meine Kopfschmerzen nicht unbedingt besser werden lässt. Überhaupt komme ich mir ziemlich zermatscht vor - kein Wunder nach dem gestrigen Tag. Warum musste ich nachts auch noch Whisky trinken, selbst daran Schuld, dass mein Schädel brummt. Wenn ich die letzte Nacht  jetzt noch mal Revue passieren lasse, wird mir schon klar, dass das hier kein Urlaub auf dem Ponyhof ist. Eine wirklich andere Welt mit wirklich anderen Regeln. Das Frühstück, das Barry und Stephan gekauft haben, ist einigermaßen europäisch: Weissbrot mit Butter und Käse, dazu Kaffe und Fruchtsaft aus Dosen. Peter, unser texanischer Tonmann sagt mir gerade: "You have spots in your face, red spots!" - und ich Frage zurück: "Malaria?" - naja, Gelbfieber kann es nicht sein, erstens bin ich dagegen geimpft und zweitens wären die Pickel dann ja wohl gelb (haha!). Das beste ist wohl, ich mach mIch noch mal lang... Vorher Suche ich noch einen Spiegel - Pickel im Gesicht?!
 
Gegen 15:00 Uhr fahren wir dann los, zuerst ins Zentrum von Niomo. Dort ist ein Markt - buntes Treiben und Stände mit allem Möglichen - von der DVD über Ghettoblaster, Sonnenbrillen, Uhren, Werkzeug und Haushaltswaren aller Art bis hin zu Obst, Gemüse, Brot und Fleisch. Letzteres ist ein ungewöhnlicher Anblick für uns Mitteleuropäer. 35 Grad und überall Fliegen, aber das scheint hier wirklich normal zu sein. Wenn ich an die ganzen Gammelfleisch-Skandale in Deutschland denke, dann relativiert das auch schon wieder alles. Wir haben auf diesem Markt ein paar Runden gedreht, und ich bin erstaunt, dass es dort, gerade was Lebensmittel angeht wirklich eine große Auswahl und einen regen Handel gibt. Irgendwo steht ein Kickertisch - ich frage, ob ich mitspielen darf und werde von einem vielleicht 14 jährigem Jungen mit einem 9:1 gnadenlos deklassiert. Viele Kinder verfolgen das Spiel und freuen sich, dass das Weißbrot auf die Mütze kriegt.
So gegen 4 fahren Urs, Mamadou, unser schweigsamer Fahrer und ich weiter zu dem Dorf, zu dem wir eigentlich gestern schon fahren wollten. Wir wollen dort eine Familie besuchen, die einen ihrer erwachsenen Söhne nächste Woche über Mauretanien nach Europa schicken wird. Der Empfang im Dorf ist sehr herzlich, wir werden schon erwartet und die Familie, bei der wir zu Gast sind, versammelt sich im Innenhof um uns zu begrüßen. Der westliche Norden von Mali ist keine Touristengegend, und das merkt man, weil unsere Ankunft für die Leute ein echtes Ereignis ist. Als wir von unserem "Verbindungsmann" durch das Dorf geführt werden, folgt uns eine große Kinderschar, alle lachen und freuen sich, dass wir da sind. Wir laufen zwischen den teilweise bunt angemalten Lehmhütten entlang, kein Dreck, kein Gestank, überall Ziegen, Esel und Hühner, alles sehr sauber und gepflegt (im Gegensatz zu den Straßen in der Stadt). Wir kommen in einen prachtvollen Garten, der permanent von den Frauen bewässert wird, ein tiefer Brunnen ist rund um die Uhr im Einsatz, die Frauen ziehen Eimer mit Wasser nach oben und transportieren das dann in Großen Schüsseln auf dem Kopf direkt zu den Beeten. Dort wachsen Salat, verschiedene Kohlsorten, Mais, Kartoffeln, Knoblauch, Zwiebeln, und jede Menge Kräuter. Es ist wirklich erstaunlich, wie üppig all das in dieser trockenen Gegend wächst und gedeiht, und der Chef oder Manager des Gartens führt uns nicht ohne Stolz zwischen den Beeten entlang.
Der Grund unseres Besuches zu dritt ist eine Art vorsichtiges Vorchecken, ob es in Ordnung ist, dass wir morgen mit dem Kamerateam wiederkommen und Fragen stellen dürfen. Das Familienoberhaupt, ein Mann mit Turban um die 60, hört sich unsere Vorstellungen gewissenhaft an und die ganze Großfamilie sitzt dabei. Bestimmt 20 Kinder und jede Menge Familienangehörige aller Generationen. Wenn ich richtig gezählt habe, 4 Mütter, die ihre kleinsten Kinder in einem Tuch mit sich herumtragen. Urs hat erklärt, was unser Anliegen ist, dass wir herausfinden wollen, warum das Dorf Geld sammelt, um junge Männer auf die gefährliche Reise nach Europa zu schicken. Ich habe erklärt, dass es uns darum geht, diese Menschen zu verstehen und vor allem, dass wir versuchen, dieses Phänomen in die Öffentlichkeit zu tragen, um damit für Verständnis für die zu werben, die diesen Weg auf sich nehmen. Der Turban-Familien-Boss erklärt uns, dass zum Beispiel der Schulbetrieb oder die neue Wasserpumpanlage von Geldern finanziert werden, die ein Cousin aus Deutschland schickt, der es geschafft hat. Überhaupt scheinen die sozialen Netzwerke gut ineinander zu greifen - es ist wirklich beeindruckend, wie dieses Dorf, gleich einer Oase, einer eigenständigen, in sich geschlossenen Zelle, funktioniert. Insgesamt leben hier ungefähr 2000 Menschen und das geht schon seit über 200 Jahren so. Nach knapp zwei Stunden werden wir verabschiedet. Man sagt uns, dass noch heute mit den Dorfältesten beraten wird, aber dass wir uns voraussichtlich morgen wieder sehen, dieses Mal mit Kamerateam.
Auf dem Rückweg in die Stadt streikt kurz unser Cherokee, und ich bin froh, dass das nicht letzte Nacht passiert ist - das hätte noch gefehlt.
 
Zum Abendessen in einem der wenigen Restaurants der Stadt gibt es Nudeln mit Fleisch. Es herrscht einigermaßen erschöpftes Schweigen, allen steckt die letzte Nacht in den Knochen und gegen 22:30 sind wir zurück in unserer Herberge. Urs und Stephane, unser kanadischer Kameramann wollen noch ein bisschen Filmmaterial des Tages sichten, eine halbe Stunde bin ich noch dabei, dann ziehe ich mich zurück. Morgen soll es nicht so zeitig weitergehen - ich glaube, alle brauchen erstmal etwas Schlaf und Ruhe. Ich denke noch darüber nach, was ich morgen im Dorf wie fragen könnte, wie direkt ich sein kann, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Geht mich oder uns das überhaupt was an? Sollten wir uns überhaupt einmischen? Wie gesagt: deswegen bin ich hier. Mir geht es darum, zu verstehen, warum diese Leute diese Reise auf sich nehmen... Jetzt wird aber erstmal geschlafen. Vorhin hat in meinem Klo irgendein kleines Tier geraschelt, und ich war froh, als ich gesehen habe, dass es ein Gecko war und kein blutrünstiges Insekt oder giftiges Schlangenvieh.
Jetzt kommt auch die Frage auf, ob ich, um das Leben der Leute im Dorf besser verstehen zu können, eine Nacht dort schlafen könne - naja, es gibt ja Moskitonetze, und ich denke mal, dass anderes Getier sich sowieso nicht an mich rantraut ;-) Ein bisschen ertappe ich mich trotzdem dabei, dass mich der Gedanke, am Samstag wieder zuhause in meinem Bett schlafen zu können, fröhlich stimmt.



20.01.2010 - EINIGE BILDER AUS MALI




20.01.2010 - GRILLEN ZIRPEN
Letzte Nacht habe ich mehr als 8 Stunden geschlafen, zwar mit Unterbrechungen, aber im Gegensatz zum gestrigen Morgen geht es mir hervorragend. Wir sind noch mal auf dem Markt von Nioro. Urs interviewt einen Schneider in dessen Werkstatt, und ich habe Zeit, alleine über den Markt zu schlendern. Es ist mehr Betrieb, als gestern, und es ist noch heißer. Unter einem Wellblechdach setze ich mich zu einer Gruppe Männer, die im Fernsehen einen Bericht über das Erdbeben in Haiti sehen. Sie diskutieren lebhaft - ich verstehe zwar nichts, merke aber, dass sie sich über den Fernsehbericht austauschen und bestürzt sind über das Elend, das sie sehen. Ich frage, ob ich sie fotografieren darf, sie erlauben es und sofort kommen sie zu mir und wollen mein i-Phon sehen. Ich führe ein paar Spielereien vor, sie sind begeistert. Einer zeigt mir sein Telefon und fragt scherzhaft, ob wir tauschen wollen. Es ist zwar wirklich eine andere Welt hier, aber der technische Fortschritt macht auch hier, am Rande der Sahara nicht halt. Gleich fahren wir in das Dorf von gestern. Die Dorfältesten haben entschieden, dass wir filmen dürfen, und so wie es aussieht, werde ich heut dort übernachten. Darauf bin ich sehr gespannt, denke aber auch mit etwas Unbehagen über diese Aktion nach. Warum habe ich Angst? Angst ist vielleicht auch zu viel gesagt, aber so richtig wohl ist mir bei dem Gedanken trotzdem nicht. Werde ich wenigstens den Schlafsack mitnehmen, oder lass ich mich voll und ganz auf diese Aktion ein? Zahnbürste, eine Flasche Wasser und ein Stück Baguette, oder gar nichts? Es ist mir ja fast ein bisschen peinlich, über all diese Dinge nachzudenken, immerhin war meine eigene Ansage, genau das alles so direkt und ungeschönt erleben zu wollen, aber wenn es dann so direkt und greifbar vor mir liegt, kommen solche Gedanken von ganz alleine.
 
Wir besuchen einen jungen Mann, Kaw (sprich Kao) den Cousin des Schneiders, und Sohn der Familie aus dem Dorf, der in ein paar Tagen über Mauretanien nach Europa reisen will und interviewen ihn. Ich Frage ihn, was er für Vorstellungen von Europa hat, was er in Europa will und er sagt, dass er arbeiten will, um Geld zu verdienen, das er dann seiner Familie schicken will. Er hat zu meinem Erstaunen keine Ahnung von den Risiken, die diese Reise in sich birgt Als ich ihm sage, dass es sehr gefährlich ist, dass viele Menschen, die diese Reise unternehmen, niemals ankommen, dass viele der Boat-People ertrinken, sagt er, dass er Allah vertraut, und wenn er sterben sollte, dann sei das Allahs Wille.
 
Zusammen gehen wir essen. Es gibt Reis mit Gemüse, wer will kann Fleisch dazu haben, ich will nicht. Ich erinnere mich, dass ich letztes Jahr, als ich in Vietnam war, ziemliche Schwierigkeiten mit meiner Verdauung hatte, und das versuche ich, dieses Mal zu umgehen. Wir werden sehen, ob ich erfolgreich bin. Ich hoffe sehr, zumal ich am Samstagabend in Leipzig einen kurzen Auftritt habe, bei dem ich Klavier spielen und singen will.
 
Bevor wir in das Dorf fahren, gehe ich zusammen mit Kaw über den Markt. Wir kaufen Lebensmittel, die wir als Geschenk mitbringen wollen. Salat, Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln, Eier, öl, Gewürze und Baguette. Auf dem Weg zum Dorf gibt es noch einen unangenehmen Zwischenfall. Ich fotografiere aus dem Auto heraus die Leute, als uns plötzlich ein schwer bewaffneter Soldat anhält. Es ist streng verboten, Militär oder Polizei zu fotografieren und er hatte gedacht, dass ich ihn gerade "abgeschossen" habe. Wir müssen alle aussteigen und er macht nicht gerade einen freundlichen Eindruck, während er unsere Papiere sehen will. Er telefoniert und sofort sind zwei weitere Soldaten da, Maschinenpistole im Anschlag. Mamadou ist sichtlich aufgeregt ("Fotografiere niemals Militär oder Polizei!"), kann ihnen aber erklären, dass wir in das Dorf unterwegs sind und keine bösen Absichten haben. Ich muss dem Soldaten mein Telefon und die letzten Fotos zeigen und merke, dass auch mir die Situation nicht einerlei ist. Einer der beiden anderen (scheinbar ranghöheren) Soldaten, sagt, dass auf dem Weg zum Dorf eine militärische Übung stattfindet. Er sieht unser Kamera- und Ton-Equipment und will uns sofort zurück schicken. Und jetzt brauchen wir das erste mal wirklich die Legitimation aus dem Filmministerium mit all unseren Passbildern. Es war also wirklich nicht umsonst, in Bamako einen halben Tag mit Warten verbracht zu haben. Hilfreich war sicherlich auch, dass einer der Fahrer dem Soldaten einen Geldschein zugesteckt hat. Als dann endlich alles überstanden ist, sagt Barry, der Schotte, scherzhaft, dass es hier zwar "fucking normal" ist, Einheimische zu erschießen, dass man aber vor Europäern halt macht und diese maximal ins Gefängnis steckt (was kein Vergnügen ist, denn der malische Knast ist bei weitem nicht so komfortabel, wie der deutsche - der schottische sei so ähnlich, wie der in Mali - er kenne sich da bestens aus).
 
Das war ein kurzer Schreck, der uns über eine halbe Stunde gekostet hat, und als wir dann endlich im Dorf ankommen, ist es kurz vor 6 - in einer Stunde wird es hier stockdunkel sein. Deswegen nutzen wir die Zeit für einen Rundgang mit Kamera. Wie gestern werden wir von einer großen Kinderschar begleitet. Als ich mein Telefon raushole, sie Filme und ihnen die Sequenz zeige, ist die Freude groß - erstauntes Gekreische, sie wollen noch mal und noch mal und haben wirklich ihren Spaß.
Jetzt sitzen wir an derselben Stelle wie gestern - eine Schüssel wird in die Mitte gestellt mit irgendeiner Speise drin, die mich nicht unbedingt lockt. Urs und Barry sind mutig und kosten - irgendein Weizen-Brei mit Erdnuss-soße, sehr salzig. Man wäscht die Rechte Hand und isst mit dieser direkt aus der Schüssel.
Stephan und ich werden heute hier übernachten. Es ist jetzt 21:00 Uhr und wir sitzen mit ganz vielen Kindern auf dem Boden. Grillen zirpen und der Sternenhimmel ist wieder unglaublich! Wir werden auf dem Fußboden im freien schlafen. Über uns ist zwar ein Dach, aber es ist kein Zimmer, eher ein mit Stroh teilweise überdachter kleiner Platz, eine Art Terrasse. In der Mitte ist ein Feuer, die Frauen sitzen dort und essen Kusskuss. Kinder sitzen mit uns auf unserem Nachtlager, einige von ihnen sprechen Französisch und unterhalten sich mit Stephane  Ich verstehe leider kaum etwas, aber Stephane übersetzt ab und zu für mich ins Englische. Wir reden über die Sterne - man sieht den Mars, den roten Planeten extrem gut. Die Milchstraße ist ein weißes Band, und je länger ich nach oben schaue, umso mehr staune ich wieder über die Dreidimensionalität.
Die Kinder wollen Fotos von meiner Heimat sehen, ich stöbere den Speicher meines Telefons durch und zeige ihnen Leipzig und Berlin, meine Familie und Fotos von mir auf der Bühne. Immer mehr Kinder kommen dazu, bald sitzen wir mit ungefähr 20 Neugierigen auf dem Boden, lachen und reden und hören afrikanische Musik, die aus irgendeinem Batterie betriebenen Ghettoblaster dröhnt. Elektrisches Licht gibt es hier nicht, genau so wenig wie fließendes Wasser.
Ich bin (mal wieder) ganz schön abgelaufen und frage mich, wann denn die Kids hier normalerweise schlafen gehen. Natürlich ist heute auch für sie ein besonderer Tag - solche Gäste sind hier etwas Besonderes, und keiner denkt ans Schlafengehen. Ich bin, obwohl ich wirklich müde bin, aufgewühlt, und mein Unwohlsein und meine Angst vor der Nacht im Dorf unter freiem Himmel sind weg. Fast möchte ich sagen, dass ich mich hier wirklich gut aufgehoben fühle. So was hab ich auf jeden Fall noch nie erlebt und ich werde nicht vergessen, was hier gerade passiert. Normal ist das nicht, ein Tourist würde das, was uns hier widerfährt, nicht erleben. Ich höre jetzt mal auf, in mein Handy zu tippen und beteilige mich noch ein bisschen am nächtlichen Dorfleben. Gegen 22:00 Uhr gibt es Essen: Aus den Sachen, die ich mit Kaw auf dem Markt gekauft habe, haben die Frauen einen herrlichen Salat zubereitet. Ich vergesse alle Vorsicht und esse - zusammen mit allen anderen aus einer großen Schüssel, die in der Mitte steht. Die Rechte Hand wird benutzt, die Linke ist die "unsaubere" und hat beim Essen nichts zu suchen. Es ist ein schönes Ritual und es schmeckt wirklich gut. Nach und nach ziehen sich alle zurück. Meine Schlafstätte ist auf einer Matte im Innenhof. Neben mir hat es sich Stephane mehr oder weniger gemütlich gemacht. Ich lasse alle Sachen an und bin froh, dass ich daran gedacht habe, meine Jacke und ein Tuch mit zu nehmen, denn nachts soll es, wie gesagt, kalt werden. Ich habe ein kleines Kissen und eine bunte, große Decke, die auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Ich packe mich ein, so gut es geht und versuche zu schlafen.
 
Kurz nach Mitternacht - es ist Ruhe. Bis auf das Zirpen der Grillen und vereinzelte "mähs" der Ziegen ist kein laut zu hören. Ich liege wach und frage mich, worauf ich mich hier eingelassen habe. Ich friere etwas - es ist wirklich kalt, vor allem, wenn man unter freiem Himmel auf dem Fußboden schläft, nur mit einer Decke zugedeckt. Mein Handy, der einzige theoretische Kontakt zur Zivilisation hat kaum noch Strom, aber Netz hab ich hier sowieso nicht, also was soll's... Ich muss jetzt irgendwie schlafen, weil morgen früh ab spätestens 6 Uhr hier das Leben anfängt, zu toben und die Dorfbewohner sich wundern werden, was da für ein komischer, missgelaunter, zerknitterter Typ in ihrem Innenhof rumliegt. Nun ja, ich versuche einfach Schäfchen zu zählen, oder besser Ziegen...
Ich habe nicht wirklich geschlafen, als ich gegen 01:00 Uhr vom Schein einer Taschenlampe und Geraschel aufschrecke. Urs und Mamadou kommen mit einem halben Kasten Bier an und sagen, dass es ein Problem gibt: Mal wieder ein Missverständnis - die Bürgermeisterin des Dorfes fühlt sich übergangen - sie hätte Bescheid wissen müssen, dass Fremde im Dorf übernachten und stellt sich nun quer, was die Filmerei morgen betrifft. Ich hege schon die heimliche Hoffnung, dass ich in mein (fast) richtiges Bett zurück darf, aber Urs entscheidet, dass wir im Dorf bleiben und morgen früh der Bürgermeisterin als erstes einen Besuch abstatten, um Verzeihung bitten und versuchen, die Sache zu klären. Ich trinke noch ein Bier und lege mich wieder hin. Urs und Stephane fangen an, sich ein zu trinken, und ich kann nicht schlafen, weil sie sich unterhalten. Ich will nicht spießig sein und um Ruhe bitten, ärgere mich 10 Minuten und entscheide mich dann zur Flucht nach vorn: 2 Bier und eine halbe Stunde später habe ich die nötige Bettschwere und schlafe endlich ein - es ist schätzungsweise 02:00 Uhr.

21.01.2010 - KALTES, KLARES WASSER
Der erste Laut, den ich höre, ist der Schrei des Hahnes - es muss vor 06:00 Uhr sein, es ist noch dunkel und von Dämmerung ist noch keine Spur. Alles tut mir weh, es ist richtig kalt, ich packe mich noch mal richtig in meine Decke und versuche, noch eine Runde zu schlafen. Kurz danach fängt der Muezzin an, sein Allah-Lied zu singen. Muslime beten 5 Mal am Tag, das erste mal gleich nach dem Aufstehen. Mamadou hat mir seine Gebetskette gezeigt und erklärt, wie sie gebraucht wird. Es sind 99 Perlen, 3 mal 33 und diese Perlen werden abgezählt und dabei werden die verschiedenen Namen Allahs gesagt. Es ist schon kurios, wie sehr diese Kette an den katholischen Rosenkranz erinnert. Urs sagt, dass die Buddhisten eine Ähnliche haben... Ich frage Mamadou noch ein bisschen nach seinem Glauben aus, will wissen, warum die muslimischen Frauen in Mali nicht verschleiert sind. Er sagt, dass die malischen Muslime nicht so streng sind wie in anderen Ländern. Die Burka ist hier sehr selten, und auch solche Sachen wie Steinigung oder andere archaische Strafen hat es hier nie gegeben. Steinigung ist ein arabisches, kein afrikanisches Phänomen. Wir reden über den Umgang mit verschiedenen Kulturen und sind uns einig, dass man einerseits andere Kulturen und Religionen respektieren sollte, andererseits aber klar sehen sollte, dass Steinigung, Hand abhacken, Peitschenhiebe oder ähnliche "Traditionen" abzulehnen sind. Es ist eine schwierige Gratwanderung, wie die so genannte zivilisierte Welt damit umgehen sollte, und wir sind uns einig, dass es auch falsch verstandene Toleranz gibt, dass es Dinge gibt, die einfach unmenschlich sind, auch wenn sie so in der jeweiligen Religion gelehrt werden. Und dann sollte man auch sehen, dass die "Bösen" nicht nur auf einer Seite stehen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass in Europa Hexen verbrannt worden sind, oder im Namen des Kreuzes geplündert und gebranntschatzt worden ist. Und noch am Anfang des neuen Jahrtausends wurden von den USA im völkerrechtswidrigen Irakkrieg die Waffen gesegnet, und der "Kampf gegen den Terror" antwortet noch heute im Namen Gottes gegen ganze Staaten und deren Zivilbevölkerung mit demselben Terror. George W. Bush hat gesagt, dass Gott ihm befohlen hat, diese Kriege zu führen.

All diese Gewalttätigkeiten im Namen einer Religion sind objektiv betrachtet unmenschlich oder unrecht, völlig egal, von welcher Seite sie initiiert werden. Man sollte nicht den Fehler machen, das eine Unrecht mit dem anderen zu rechtfertigen, oder, um noch mal das Bild der Steinigung zu gebrauchen: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein - es geht, und darin sind Mamadou und ich uns einig, vor allem um gegenseitiges Verständnis und um Respekt voreinander. Mamadou und ich haben vorhin Nummern und e-Mail-Adressen getauscht, und ich bin froh, so einen klugen und besonnenen Menschen kennen gelernt zu haben...

 

Gegen 08:00 Uhr kommen die anderen, Barry und Peter haben Frühstück dabei. Es gibt wieder Weissbrot - ein leckeres Baguette, das wohl von den französischen Kolonialherren ins Land gebracht wurde, dazu Schmelzkäse und Marmelade. Kaffe wird frisch über dem offenen Feuer gekocht und dann gibt es wieder die Dosen mit verschiedenen Säften. Urs, Mamadou und ich machen uns auf zur Bürgermeisterin.

Wir laufen ein paar hundert Meter durch die Steppe zum Rathaus, einem etwas größeren Lehmgebäude, vor dem die grün-gelb-rote malische Flagge weht. Es ist schon sehr warm, obwohl es erst kurz nach 9 ist. Die Bürgermeisterin ist eine sehr atraktive Frau, vielleicht 35 Jahre alt. Sie empfängt uns in ihrem Büro, einem kargen Raum mit einem kleinen Fenster und hört sich an, was wir zu sagen haben. Sie ist sehr freundlich und nimmt unsere Entschuldigung an. Wir fragen sie, ob wir sie heute Nachmittag mit Kamera besuchen dürfen, um sie zu interviewen und sie gibt uns auch dafür grünes Licht. Erleichtert verlassen wir das Rathaus und laufen durch die mittlerweile brennende Hitze zurück zu unserer Herberge.

Dort haben Stephane und Peter schon alles für die Interviews mit Kaw und seinen Eltern vorbereitet. Wir sitzen im Innenhof, auf der selben Matte, auf der wir geschlafen haben und reden über die bevorstehende Reise des jungen Mannes. Ich frage, ob die Entscheidung, dass Kaw nach Europa geht, seine eigene ist, oder die der Familie. Der Vater sagt, dass der Familienrat diese Entscheidung demokratisch getroffen hat und dass sein Sohn mit Allahs Hilfe in Europa erfolgreich sein und der Familie damit einen großen Dienst erweisen wird. Auf meine Frage nach den Risiken bekomme ich wieder die selbe Antwort: Alles liegt in Allahs Hand und wenn wirklich etwas passiert, dann ist es Allahs Wille. Kaws Frau, Mutter zweier kleiner Kinder ist hochschwanger - Kaw wird in drei Tagen das Dorf verlassen - das heißt, er wird sein drittes Kind erst sehen, wenn er, so Allah es will, zurückkehrt. Kaws Mutter fängt an zu weinen und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Am Ende sitzen alle drei im Schneidersitz auf der Matte und beten, und das ist wirklich eine anrührende Szene.

 

Wir besuchen noch die Dorfschule - ein Flachbau aus Lehm mit drei Klassenzimmern. Als wir ankommen, sind die Kids sehr aufgeregt. Mamadou, der ja eigentlich Lehrer ist, glänzt sofort und hat die Kinder voll im Griff. Er fragt sie, ob sie später mal auf die Universität gehen wollen und was sie mal werden wollen - sie stehen auf, bevor sie antworten und sprechen laut und deutlich und in ganzen Sätzen. Ich habe das Gefühl, dass die Lehrer und auch Mamadou und die anderen Einheimischen wirklich stolz auf ihre Schule sind. Am Ende verabschieden uns  die Schüler mit der Malischen Nationalhymne und ich ärgere mich, dass der Akku meines Telefons leer ist und ich nicht filmen oder aufnehmen kann.

 

Gegen Mittag fragen wir nach Musikern im Dorf und ich Laufe zusammen mit Kaw 5 Minuten durch die Steppe zu einem Haus, in dem wir sie finden sollen. Vor diesem Haus wird gerade eine Ziege geschlachtet und ich sehe mir genau an, wie das Fell abgezogen wird. Auch so etwas ist für uns Mitteleuropäer fast schon in Vergessenheit geraten - wir kaufen unser Fleisch eingeschweißt im Supermarkt oder sauber drapiert aus der gekühlten Vitrine beim Fleischer und haben mittlerweile völlig verdrängt, dass ein Tier erstmal getötet werden muss, bevor es gegessen werden kann.

Dann kommen die Musiker. Zwei Männer, beide an die 60 Jahre alt haben Djemben, afrikanische Trommeln, die man sich zwischen die Knie klemmt und mit denen man verschiedene Sounds fabrizieren kann. Ein dritter Mann, etwas jünger, spielt eine Art Geige und alle drei singen dazu. Wir fragen sie, ob sie mit "zu uns" ins Haus kommen wollen, sie fragen die Bürgermeisterin und sind eine halbe Stunde später da. Mittlerweile ist es schon kurz nach vier, die Musiker legen in unserem Innenhof los und kurze Zeit später haben sich ganz viele Leute im Hof versammelt und klatschen und singen mit. Irgendwann fragt mich Urs, ob ich nicht mitmachen will - Mamadou fragt für mich – ich darf und bin richtig aufgeregt. Ich setze mich zwischen Geige und Djembe und versuche, mit zu trommeln. Auch das ist gewöhnungsbedürftig, weil  die afrikanischen Rhythmen wirklich anders grooven, als alles, was ich aus meiner musikalischen Sozialisierung kenne. Ich glaube trotzdem, dass ich mich ganz gut schlage und schwitze in der Hitze, während alle um uns herum tanzen und mitsingen und klatschen. Einer der älteren Männer ist eine art rhythmischer Geschichtenerzähler. Ich frage Mamadou, was er die ganze Zeit zum Groove der Trommeln erzählt, und er sagt, dass er spontan über all die Sachen berichtet, die ihn umgeben: "es sind Leute aus Europa im Dorf, sie filmen und sprechen mit den Dorfbewohnern. Einige haben bei uns geschlafen und sie wollen die Geschichte von Kaw erzählen, der in ein paar Tagen übers Meer nach Europa will..." Mich erinnert das ganze extrem an Hip Hop - es ist wie eine Freestyle-Session, irgendwann mischt sich noch ein zweiter "Rapper" ein, was dann wie ein Battle wirkt und im Chor singen immer wieder die Frauen, die sich auch auf irgendwelche Sätze geeinigt haben. Es ist wirklich interessant, man sieht, woher diese Musik kommt, der Ursprung liegt allem Anschein nach irgendwo hier in Mali,  in Afrika. Jetzt verstehe ich das erste Mal wirklich, was Europäische Musiker wie Manu Chao, Robert Plant oder Damon Albarn nach Mali treibt. Im Januar eines jeden Jahres gibt es ein Wüstenfestival im Norden Malis, sozusagen an der Kulturgrenze zwischen Europa und Afrika. Damon Albarn und Manu Chao haben die letzten beiden Alben der Malischen Künstler „Amadou und Mariam“ produziert – die beiden, die mit Herbert Grönemeyer zur WM 2006 das Lied „Zeit dass sich was dreht“ aufgenommen haben. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, warum ich mich nicht auch mehr darum kümmern sollte, meine eigene Musik mit der Afrikanischen zu verbinden, und jetzt ist es soweit, wenn auch nur eine halbe Stunde lang, aber – wer weiß – vielleicht ist das ja ein Anfang...

 

Langsam wird die Zeit knapp - wir müssen noch zur Bürgermeisterin. Wieder der Weg durch die Steppe zum Rathaus. Selbst knapp 2 Stunden vor Sonnenuntergang ist es noch wahnsinnig heiß. Der gesamte Dorfvorstand hat sich versammelt. Die Chefin führt souverän das Wort und erzählt uns von den Problemen, aber auch von den Fortschritten im Dorf. Der Klimawandel macht allen in der Gegend zu schaffen. In den letzten beiden Jahren hat es sehr wenig geregnet und darunter leidet die gesamte Region. Vor zwei Jahren ist eine neue Wasserpumpanlage gebaut worden, die das Dorf versorgt. Sehr modern und hauptsächlich von Geldern finanziert, die einzelne Familien der Kommune überlassen, die einen Sohn nach Europa geschickt haben. Ich Frage die Bürgermeisterin, wie wichtig es für das Dorf ist, dass diese jungen Menschen sich auf die Reise nach Europa machen - sie sagt, dass das Dorf darauf angewiesen ist und dass der relative Wohlstand genau diesem Fakt zu verdanken ist. Das bestätigt meinen ersten Eindruck vom Dorf: ein in sich geschlossenes, unabhängiges System, eine gut funktionierende Gemeinschaft, eine Community, die eigenständig ist und für ihre Bewohner für relativen Wohlstand sorgt, und das nicht zuletzt wegen solcher Leute wie Kaw, die aus Europa das nötige Geld beschaffen. Es geht also weniger um das Wohl oder den Reichtum des Einzelnen, es geht um die Gemeinschaft, und davon können wir uns in Europa eigentlich eine Scheibe abschneiden. Ich bedanke mich bei den Leuten im Rathaus für die Gastfreundschaft und sage, dass wir in Europa von all diesen Sachen berichten werden, dass wir versuchen, in Europa für Verständnis gegenüber den Menschen in Mali zu werben.

Jetzt geht es noch einmal zum Haus im Dorf, wir verabschieden uns von unseren Gastgebern und ich wünsche vor allem Kaw viel Glück auf seiner Reise. Urs, Stephane und Peter werden ihn bis nach Mauretanien begleiten, danach ist er auf sich allein gestellt. Mit Urs habe ich diskutiert, ob, und wenn ja, wie man den wirklich gefährlichen Teil seiner Reise dokumentieren könnte, und wir kommen zu dem Ergebnis, dass das eigentlich unmöglich ist. Entweder man mischt sich unter die Boat-People und geht damit das Risiko ein, selbst zum Opfer zu werden, oder man fährt mit einem sicheren, seetüchtigen Schiff nebenher und filmt. Diese Variante wäre regelrecht pervers. Wir malen uns die Situation aus, dass wir an der Reling unserer weißen, großen Yacht stehen und mit der Kamera draufhalten, während die kleinen Boote mit den Wellen kämpfen und kentern, während vor unseren Augen Menschen ertrinken...

 

Zurück in unserer Herberge in Nioro versuche ich ertmal mich zu waschen. Der Wasserdruck ist minimal, aber ich freue mich, dass überhaupt klares Wasser aus dem Hahn kommt, und ich fühle mich endlich wieder einigermaßen sauber. Mein Mitbewohner, der Gecko sitzt wieder an der Wand, ich begrüße ihn und freue mich, dass er da ist, denn er sorgt dafür, dass keine Moskitos anwesend sind.

Am Abend gehen wir alle zusammen Essen, zu Fuß, weil wir nur ein Auto haben. Wir laufen durch die holperigen Straßen, es ist stockdunkel, nur die Sterne und die fast halb volle Mondsichel weisen uns den Weg. In unserem Restaurant gibt wieder Nudeln, dieses Mal mit einem knochigen Stück Hühnchen, das ich unserem Fahrer überlasse. Gegen Mitternacht laufen wir zurück - noch ist es nicht wirklich kalt, aber der Wind pfeift ganz schön. Meine letzte Nacht in Mali - einerseits werde ich etwas wehmütig, andererseits freue ich mich wirklich auf zuhause, auf eine warme Dusche und auf meine vertraute Umgebung. Morgen früh wollen wir 07:30 Uhr losfahren. Mein Flugzeug nach Paris geht zwar erst am späten Abend, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Außerdem will ich, wenn wir es schaffen, in Bamako noch ein paar Souvenirs einkaufen. Jetzt ist es doch schon wieder kurz vor zwei, ich liege im Schlafsack im Bett, habe ein Dach überm Kopf und bin darüber sehr froh.





22.01.2010 - AM ENDE CHAMPAGNER
Kurz vor sieben klopft es an meiner Tür. Die Sonne geht gerade auf und ich bin verhältnismäßig fit. Wir treffen uns eine Viertelstunde später im Innenhof des Hauses. Urs will noch eine Sequenz filmen, wie wir mit dem Auto durch die Steppe fahren. Das geht sehr schnell, zumal Mamadou etwas drängelt. Wir haben 7 Stunden Autofahrt vor uns, in einem Jeep ohne Klimaanlage, aber immerhin sitzen wir dieses Mal nur zu zweit auf der Rückbank. 08:00 Uhr rollen wir und wir kommen gut voran. Nach knapp 2 Stunden machen wir an derselben Stelle Frühstückspause, an der wir auf dem Hinweg unsere letzte Rast gemacht haben. Das ist der Verkehrsknotenpunkt, an dem es östlich nach Bamako geht und westlich in Richtung Senegal, zum Meer. Auf dem Rastplatz stehen viele Trucks und Busse, es ist wieder sehr dreckig, auf Grills werden Ziegenkeulen gegart und an kleinen Ständen in der gleißenden Sonne gibt es Kaffee und Baguette mit Omelette – sehr lecker! Weiter geht es - die Hitze ist wirklich Wahnsinn. Wir fahren ewig lang eine schnurgrade Straße lang, Links und rechts nichts als die weite Steppe Afrikas. Mamadou erzählt, dass er in seiner Kindheit noch Löwen, Giraffen und Hyänen in freier Wildbahn gesehen hat. Die Zeiten sind vorbei, die Zivilisation hat sich breit gemacht und die wilden Tiere haben sich zurückgezogen. Vereinzelt trifft man sie wohl noch an, aber eher im Senegal oder eben weiter entfernt von den Städten.

Die Landschaft um uns herum wird grüner. Wir fahren in Richtung Süden, weg von der Sahara, und das sieht man wirklich. Weniger vertrocknete, verdorrte Bäume und ganz allgemein mehr Leben. Einige Bäume haben herrliche orangefarbene Blüten und andere tragen irgendwelche Früchte - das gab es im Norden alles nicht. Wenn wir so weiter fahren, dann sind wir in 2 Stunden in Bamako und wir haben noch Zeit zum Sightseeing. Mamadou will mir sein Haus zeigen, er hat sogar schon seiner Frau Bescheid gesagt, dass ich mitkomme, sie wird für uns Abendessen vorbereiten.

Auf seinem Handy hat er mir gestern ganz stolz ein Foto von seinem Haus gezeigt, woraufhin ich ihm auf meinem ein Foto vom Berliner Reichstag gezeigt und gesagt habe, das sei mein Haus ;-)

14:00 Uhr

Wir sind in Bamako angekommen - der Straßenverkehr in der Stadt ist unglaublich. Jeder fährt, wie er will, auf unserer Fahrt durch die Stadt denke ich mehrmals, dass es gleich knallt. Tausende von Mofas schlängeln sich zwischen Autos durch, es ist ein permanentes Hupkonzert, ganz zu schweigen von dem Smog. Es ist eine andere Welt, auch in der Hauptstadt des Landes merke ich, dass ich mich noch längst nicht daran gewöhnt habe. Als wir bei Mamadou zuhause ankommen, erwartet uns dessen Frau vor'm Haus. Die beiden wohnen seit 10 Jahren dort, und für malische Verhältnisse ist dieses Haus schon Luxus. Im Vorgarten grünt und blüht es - jeden Tag muss alles bewässert werden, was sicher sehr teuer ist. Seine Frau, Aischa, hat Essen gekocht - Salat als Vorspeise und dann Reis mit Fisch. Ich esse von allem etwas und es schmeckt sehr gut. Nach dem Essen wollen wir zu dritt noch einmal zum Markt - ich will ein paar Souvenirs kaufen und die beiden wollen mir dabei helfen. Wir quälen uns eine halbe Stunde lang durch den Berufsverkehr, der Smog ist noch extremer als vorhin, und ich fange langsam an, mich nach meinem geliebten Leipzig zu sehnen. Wir parken gleich neben dem Markt, und sind kaum ausgestiegen, als von allen Seiten fliegende Händler auf uns einstürmen, die uns alles Mögliche verkaufen wollen. "Good price for you my friend..." Mamadou und seine resolute Frau nehmen mich in ihre Mitte, und wir gehen zielstrebig zu den Ständen, die sie mir empfehlen. Meine Kinder hatten mir aufgetragen, ich solle ihnen doch ein Kamel mitbringen (für den Garten) deswegen gehe ich zielstrebig zu einem der Stände und sage, was ich will. Der Inhaber preist seine Ware an und will ziemlich viel Geld für ein schönes Kamel aus Bronze. 35.000 malische Francs - das sind über 50 € - Mamadou gibt mir ein Zeichen, zu ihm zu kommen und sagt, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich solle nicht so viel Interesse zeigen... Der Händler kommt wieder mit Kamelen aus Holz - ich finde sie fast noch schöner, als das bronzene, tu aber gelangweilt... Er sagt, eins kostet 20.000 Francs - ich drehe mich um und gehe weiter, er kommt hinterher. Plötzlich redet Aischa auf ihn ein und Mamadou fragt mich, ob ich das Hölzerne haben will. Ich will beide, und er sagt, ich solle gar nichts mehr sagen. Die beiden feilschen nun mit dem Händler und ich stehe daneben und verstehe logischerweise kein Wort. Die beiden nehmen mich wieder in ihre Mitte und ziehen mich weg vom Stand. Wir gehen schnellen Schrittes weiter und der Händler folgt uns - lebhafter Wortwechsel, Kopfschütteln, weitergehen, stehen bleiben... Auf einmal hat Aischa beide Kamele in der Hand, Mamdou bezahlt und wir gehen mit unserer "Beute" weiter. "Wieviel bin ich Dir schuldig?" frage ich  Mamadou - er lächelt und sagt 15.000 Francs... Dann schenken mir beide zwei Holzschnitzereien - "CIWARA" sagt Mamadou, "das ist Malische Kultur - google es, und du weißt Bescheid über mein Land!". An einem anderen Stand kaufe ich noch ein drittes Kamel und einen Aschenbecher für meinen Bruder - die beiden haben für mich wieder einen hervorragenden Preis ausgedealt, und ich bin froh, diesen hektischen, lauten, staubigen Markt wieder verlassen zu können. Die Händler folgen uns wie bei unserer Ankunft bis zum Auto und lassen uns kaum einsteigen, bis Aischa wieder etwas lauter wird. Der Smog hat sich auf der Rückfahrt noch mehr verdichtet, und wir fahren im kaum sichtbaren Sonnenuntergang nach Hause. Dort gibt es schon wieder Essen, sehr fettiges Rindfleisch am Spieß , von dem ich sehr wenig esse - danach muss ich dringend auf die Toilette. "Revolution Inside" sage ich den beiden, die sich kaum noch einkriegen vor Lachen. Aischa gibt mir Tabletten, damit ich die Heimreise unfallfrei überstehe. Es ist kurz nach 8 - wir müssen los zum Flughafen, weil man mindestens 2 1/2 Stunden vor Abflug da sein sollte. Wir laden mein Gepäck ins Auto, steigen ein und - der Ford Cherokee springt nicht an. Ein leicht panisches "oh-oh" von Mamadou verrät mir, dass er gerade auch keine Lösung hat. "Die Batterie ist sehr alt" sagt er und will anfangen, sie auszubauen. Ich schlage vor, ein Taxi zu nehmen - würde es logischerweise auch bezahlen, aber meinen Flug will ich auf gar keinen Fall verpassen. Wir winken eins ran, Mamadou fragt kurz und dealt den Preis aus und wir steigen ein. Ich soll vorne sitzen und versinke im kaputten Sitz eines uralten Mercedes - beim Tür zuschlagen fällt die Kurbel des Fensterhebers runter, der Gurt ist kaputt und auf der Fahrt geht das Auto unzählige male aus, springt aber glücklicherweise immer wieder an. Gegen 9 sind wir dann endlich am Flughafen - Menschenmassen drängen sich vor dem Gebäude, eine lange Schlange steht vor dem Eingang und Mamdou geht nach vorn, redet kurz mit einem Polizisten und steckt ihm einen Schein zu. 5 Minuten später sind wir drin, beim check in noch einmal die selbe Zeremonie - ich Frage Mamadou, ob es normal ist, Polizisten zu schmieren. Er sagt, dass es anders gar nicht geht. Wir müssen uns schnell verabschieden - Aischa küsst mich auf beide Wangen und Mamdou hat Tränen in den Augen. Auch ich muss schlucken - wir beteuern einander, dass wir in Kontakt bleiben, er ist wirklich ein sehr herzlicher, warmer und kluger Mann - ich werde mich definitiv bei ihm melden...

Als ich endlich im Warteraum des Flughafens bin und die Sicherheitskontrolle hinter mich gebracht habe, läuft im Fernsehen laut Marschmusik und eine Militärparade. Panzer fahren durch die Gegend, die mir mittlerweile wunderlich vertraut vorkommt, Soldaten marschieren und über ihren Köpfen fliegen Flugzeuge im Tiefflug. Ein General hält eine Rede und ich denke nur: „Fuck you! - du bist sicherlich auch so ein korrupter Staatsdiener..." Vielleicht tue ich ihm ja Unrecht, aber ich glaube nicht daran. Andererseits ist aber auch das alles relativ. Wenn ich darüber nachdenke, was in meiner Welt, in meinem Land an kriminellen, korrupten Machenschaften abgeht (mit Summen, gegen die das, was ich hier beobachtet habe, wirklich „peanuts“ sind), dann sollte ich hier nicht so hart urteilen.

Jetzt stehe ich auf dem Rollfeld und warte auf den Bus, der mich zum Flugzeug bringen wird. Ich bin wirklich fertig und muss all die Eindrücke der vergangenen 5 Tage erstmal ordnen, bevor ich mir eine Meinung bilden kann. Kulturschock ist auf jeden Fall erstmal eine treffende Zusammenfassung, aber ich will das alles gar nicht vordergründig negativ betrachten. Ich habe viel gelernt in dieser kurzen Zeit in dieser anderen Welt, habe garantiert viel verstanden, auch wenn ich einiges niemals verstehen werde, und ich habe einen Menschen kennen gelernt, der mich sehr beeindruckt hat. Das Ziel meiner Reise, die Beweggründe der "Boat-People" zu verstehen, warum sie unglaubliche Risiken eingehen, um dieses Land verlassen zu können, habe ich auf jeden Fall erreicht. Ja, ich kann sie verstehen, und ich bin froh, jetzt in eine Air-France-Maschine steigen zu können, die mich wieder nach Europa bringt. Andererseits kann ich mir auch gut vorstellen, dass viele der Leute, die Ihr Land verlassen, genauso Heimweh nach ihrer Heimat haben werden, wie es jedem geht, der von zuhause weg gegangen ist. Mali ist ein liebenswertes Land mit einer großartigen Kultur, und allein, was ich musikalisch erlebt habe, hat mich verändert. Ganz abgesehen, dass Mamadou zu mir gesagt hat, dass ich bei ihm immer ein gern gesehener Gast bin.

 

Noch einmal werden alle Handgepäckstücke durchwühlt und alle Passagiere werden abgetastet, bevor sie in den Bus steigen, der in Richtung Flugzeug fährt. Ich lasse das alles ruhig über mich ergehen - scheinbar gibt es Gründe für all diese Kontrollen. Ich bin sehr beruhigt, wenn ich in meiner rechten Westentasche ein hartes viereckiges Etwas ertaste. Ich weiß, dass es dunkelrot ist und ich weiß auch, was in goldenen Buchstaben draufsteht: Europäische Union Bundesrepublik Deutschland Reisepass - und drin ist ein Bild, das mir einigermaßen ähnlich sieht, auch wenn der Mann auf dem Foto nicht so gestresst aussieht, wie der, der mich ansieht, wenn ich versuche, aus dem Busfenster nach draußen in die dunkle Nacht von Mali zu sehen.

Die Uhr auf meinem Telefon, in das ich die letzten Tage fast manisch meine Eindrücke gehämmert habe, zeigt 00:07 - eine null zuviel, denke ich - denn ein bisschen komme ich mir vor wie in der letzten Szene eines James Bond Filmes, wenn der Geheimagent mit der Lizenz zum Töten aus fernen Ländern zurückkehrt in die Heimat - naja, das ist sicherlich wirklich übertrieben, aber ein Abenteuer waren die letzten Tage auf jeden Fall. Jetzt endlich einsteigen - die beste Nachricht: auf Air France Flügen gibt es Champagner bis zum Abwinken! Willkommen an Bord - Bonjour!



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